Ich lerne Deutsch

Kurzgeschichte geschrieben von Tanja Maljartschuk

Tanja Maljartschuk Bilder im Kopf

Und ich lerne also Deutsch. Manchmal hasse ich es, denn diese Sprache werde ich nie wirklich kennen. Wir werden einander immer fremd bleiben und sogar dann, wenn ich auf Deutsch zu träumen anfange, alle Artikel automatisch, ohne nachzudenken verwende und endlich akzeptiere, dass das Mädchen eine Sache ist. Sogar dann bleiben wir einander fremd. Und wenn ich in dieser Sprache zu jemandem „Ich liebe dich“ sage, spüre ich trotzdem zwischen den drei Wörtern einen tiefen Abgrund des Unverständnisses in dem die Emotionen verschwinden, weil sie nicht richtig benannt wurden. Ich bin hilflos mit dieser Sprache, ich kann sie nicht umfassen, blind gehe ich durch sie wie durch einen wunderbaren Garten voller schöner Blumen, die ich nur riechen und niemals sehen kann.

„Die deutsche Grammatik lernt man in einem Jahr perfekt, zwei Jahre reicht aus, um 7-8 tausend Wörter im Wortschatz zu haben, aber ihr braucht viel mehr Zeit, um diese Wörter ordentlich verbinden zu können. Sprachgefühl kommt langsam, manchmal nie“, so sagte mein Deutschlehrer, der alte Uniprofessor namens Hartmut.

Er war hart und mutig. Er machte seinen Job anständig und engagiert, hatte aber schon lange die Hoffnung verloren, dass wir Ausländer seine Sprache irgendwann beherrschen würden. Er schämte sich für uns schon im Voraus, für alle Fehler, die wir jeden Tag stur bis zum Tod machen würden und für unsere komischen Sätze, die wir aus der Muttersprache ins Deutsche wörtlich übersetzen und denken, dass es so richtig ist, und für die im Deutschen geschrieben Bücher, die wir nie in die Hand nehmen würden, vielleicht unsere Kinder, aber nicht wir.

Diese Scham konnte man in seinen alten traurigen Augen jeden morgen ab 9 Uhr im Seminarzimmer №11 sehen. Das ganze Leben unterrichtete er Deutsch als Fremdsprache und er scheiterte, ihm selbst ist seine Sprache fremd geworden.

„Man sagt nicht Ich fühle mich gut, sondern Ich fühle mich wohl“, seufzte er und wir, 15 Ausländer im Alter von 27 bis 50, nickten ihm zu, um das, was er sagt, gleich zu vergessen. Solche Kleinlichkeiten begeistern uns nicht, weil wir uns weder gut, noch wohl fühlen.

Er war groß und schlank, stark gebeugt, mit ein paar genauso müden, wie er selbst, Haaren auf dem kahlen Kopf. Seine massiven schweren Schuhe, mit denen er kaum gehen konnte, die er trug, um nicht weglaufen zu können. Er kam einmal ins Zimmer rein und schrieb auf die Tafel „Der Papst ist zurückgetreten“. Dann redeten wir über den Papst. Dann fragte eine Frau aus Australien, ob man auch Der Papst ist abgetreten sagen kann.

„Nein, so kann man überhaupt nicht sagen“, antwortete er.

Dann holte die Australierin eine Morgenzeitung, die sie in der Ubahn gratis bekommen hatte, aus der Tasche und zeigte die Schlagzeile – Der Papst ist abgetreten. Und der arme Hartmut wurde blass, ob von Elend oder Wut, wussten wir nicht. Er war niedergeschlagen. Seine Scham schien viel größer zu sein, als wir dachten.

„Das ist falsch“, brummelte er nach fünf Minuten Schweigen. „Die Sprache stirbt, ich kann nichts dafür, ich bin gescheitert.“

Eine ukrainische Sprachlehrerin kannte ich, sie war genauso sensibel, und wenn wir, die Schüler, Fehler machten, weinte sie. Einmal konnte sie nicht mit dem Weinen aufhören, sodass wir die Rettung anrufen mussten. Hartmut und diese Lehrerin würden sich gut miteinander verstehen, weil sie beide glauben, dass die Sprache eine Seele hat.

Und hat sie? Das Wort Seele ist schön, bedeutet leider nicht viel. Oder zu viel auf einmal. Ich las es zum ersten Mal am Klo. Mein Vater sammelte dort alte wissenschaftliche Zeitschriften, in denen die furchtlosen sowjetischen Wissenschaftler versuchten zu erklären, dass die Welt sich auch ohne Religion gut verstehen lässt. Nur am Klo konnte mein Vater in Ruhe lesen. Er saß dort stundenlang und wenn meine Mutter etwas von ihm wollte – und sie wollte immer was von ihm – rief er, er sei am Klo, er hätte Magenprobleme. Jeden Tag hatte er Magenprobleme. Ich wusste aber, dass er einfach liest. Dann fing ich an, genau dasselbe zu machen. Am Klo lernte ich das Lesen. Und wenn meine Muter etwas von mir wollte – und sie wollte immer was – rief ich, ich hätte etwas Schlechtes gegessen. Und ich las. In einem Artikel ging es um die Seele und zwar, dass es schon längst nachgewiesen ist, dass sie genau 600 Gram wiegt. Angeblich wurden hunderte Todkranke vor und gleich nach dem Tod gewogen und der Gewichtsunterschied bestand immer in 600 Gram – eben das Gewicht der Seele, die im Moment des Todes den Körper verlässt. Und wenn die Seele ein Gewicht hat, heißt das auch, dass sie kein Hauch Gottes, sondern eine materielle Substanz, ist. Es bleibt noch zu klären, schreiben die furchtlosen sowjetischen Wissenschaftler, herauszufinden, wo sich im Körper genau die Seele befindet.

2 Jagdmesser

600 Gram sind nicht wenig, so dachte ich mir. Wächst die Seele parallel mit dem Menschen oder wiegt sie schon 600 Gram bei der Geburt? Wenn das Baby zum Beispiel 2 Kilo hat, heißt das, dass davon 600 Gram die Seele wiegt?

Als mein Vater echte Magenprobleme bekam, nämlich Zwölffingerdarmkrebs, las er am Klo nicht mehr. Er war erschrocken. Die Ärzte sagten, er sei nicht zu retten. In unserer Wohnung war es so still, dass ich ab und zu laut schreien musste, um meine Existenz noch zu beweisen. Der Vater war immer unterwegs, er suchte etwas, er wollte nicht sterben. Nun aß er nur Leinsamen und trank nur Leinsamenbrühe. Kiloweise brachte er Leinsamen nach Hause und kochte in allen Töpfen irgendeine dichte stinkende Jauche. Er wollte nicht sterben und ich wollte es auch nicht, dass er stirbt. Nach zwei Monaten fand er einen Esoteriker, der Antonytsch hieß und in der Nähe von uns eine halboffizielle Praxis hatte, ein dunkles Zimmer, wo die Todkranken der Stadt sich in der allerletzten Hoffnung drängten. Ich begleitete meinen Vater oft und wartete auf ihn im winzigen Vorraum. Antonytsch habe ich nie gesehen. Hinter dem schmutzigen Wandschirm redeten sie zum Beispiel so:

„Was spürst du jetzt?“

„Nichts.“

„Und jetzt?“

„Auch nichts.“

„Du bist verstopft. Und jetzt?“

„Ein bisschen spüre ich die Wärme in der linken Hand.“

„Und jetzt?“

Das dauerte ewig. Und einmal, das letzte mal, sagte Antonytsch, den ich nie gesehen habe:

„Man kann dir wirklich nicht helfen, außer du lernst dir das alles selbst, um dich zu retten.“

Er gab meinem Vater irgendwelche Bücher und ließ ihn alleine vor dem Gesicht des Todes zittern. Und mein Vater zitterte. Und ich zitterte.

Er lernte Chakren, rezitierte Mantren, experimentierte mit Energien und ihren Kanälen, er wollte nicht verstopft bleiben, er wollte nicht sterben. Die Welt teilte er in Böses und Gutes, und die Bösen schädigen diejenigen, die ein bisschen mehr verstehen und kräftiger sind, als die dummen Anderen.

„Siehst du, ich habe ein Messer in den Hals bekommen“, sagte mein Vater zu mir, und ich konnte kein Messer sehen. Oder auch:„Eine Nadel hab ich im Herzen“, „Das siebte Chakra wurde total zerstört“, „SIE haben meinen Ätherleib weggezogen“.

Er hatte immer rote weit aufgerissene Augen, er schwitzte und saß wieder stundenlang am Klo, niemand wusste, was er dort macht. Die Mutter versuchte ihn in die Irrenanstalt einzuliefern, allerdings war sie zurzeit überfüllt.

Später erklärte Vater seinen damaligen Zustand als Schamannenkrankheit. Wenn man die echte Welt plötzlich sieht, wird man verrückt. Ich fragte ihn: „Ist sie so anders, die echte Welt“, und er nickte nur schwer zu.

Einmal kam er aufgeregt nach Hause und sagte, dass zwei nackte Frauen auf dem Dach seines Autos sitzen, worauf die Mutter hysterisch rief: „Warum stirbst du nicht einfach!“.

Er trank viel, traf sich mit merkwürdigen Leuten, er tat mir leid.

Dann kam langsam Ruhe.

Vater hörte auf, alles, was er sah, zu erzählen. Er schwieg, damit die Anderen denken, und vor allem meine Mutter, er sei wieder normal. Er war es aber nicht, das wusste ich. Er ist nie wieder normal geworden, das war sein Preis, um weiter leben zu dürfen.

Der Arzt untersuchte ihn später zweimal und konnte es nicht glauben.

„Sie sind völlig, hundertprozentig gesund!“

„Im Gegenteil zu Ihnen“, antwortete Vater ernsthaft.

Oft saßen wir auf dem Balkon, ich und mein Vater, und er zeigte mir meine Seele. Sie sei wie der Rüssel des Elefanten und baumle von der Brust herab, bei manchen Menschen länger, bei manchen kürzer. Vater machte gewisse Handbewegungen, so, als ob er meine Seele gestreichelt hätte.

„Na, jetzt hab ich sie, was spürst du?“

„Nichts.“

„Und jetzt?“

„Nichts.“

„Du bist verstopft. Und jetzt?“

Das dauerte ewig. Ich erlaubte ihm alles, ich mochte seine Experimente.

Einmal schlug er vor:

„Willst du, dass ich dir ein Messer in den Hals stecke? Nur dass du weißt, was das ist. Ich nehme es gleich weg.“

Vielleicht hat er vergessen, es wegzunehmen. Dieses Messer spüre ich noch immer in meinem Hals.

 

Ich möchte mich noch sehr herzlich bei Tanja, die ich erst vor kurzem kennenlernen durfte,  für diese wunderbare Geschichte bedanken! 

Tanja Maljartschuk wurde 1983 in Ivano-Frankivsk/Ukraine geboren, studierte Ukrainische Philologie an der Prykarpattia National Universität. Einige Jahre arbeitete die Autorin in Kiew als Fernsehjournalistin. Seit 2011 lebt sie in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, die u.a. ins Englische, Polnische, Russische und Deutsche übersetzt wurden. Zuletzt erschien 2009 Neunprozentiger Haushaltsessig, 2013 der Roman Biografie des zufälligen Wunders, beide Residenz Verlag.  

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