Blauwal der Erinnerung

Leseprobe aus dem Roman der Bachmann-Preisträgerin
Tanja Maljartschuk 
über die Zeit, das Vergessen und das Verschwinden
Tanja Malyartschuk

Tanja Malyartschuk, Copyrighted: Margit Marnul, Wien. Foto zur redaktionellen Verwendung kostenfrei bei Copyright Nennung.

2016
Im Bauch des Blauwals

Wieso gerade er? Das ist die schwierigste Frage, auch für mich selbst. Wie bin ich darauf gekommen, über ihn zu schreiben? Was verbindet uns?
Meine Antwort ist: nichts.
Wir haben einander nie getroffen (eine Begegnung wäre rein physisch unmöglich gewesen), wir sind nicht verwandt, stammen nicht aus derselben Gegend, haben nicht einmal dieselbe Nationalität. Er ist Pole, ich bin Ukrainerin. Er ist Denker, als Politiker ein Philosoph, als Historiker ein Poet, ich hingegen bin ein Mensch ohne bestimmten Beruf, Mani- pulatorin von Worten und Ideen, ich kann schreiben und ich kann schweigen. Wir sind so verschieden, sind einander so fremd, dass keine Erzählung uns verbinden könnte, wäre da nicht meine irrationale Sturheit.
In unser beider Leben habe ich drei Berührungspunkte gefunden: zwei räumliche und einen zeitlichen. Das ist alles, mehr gibt es einfach nicht: Einmal verbrachte er ein paar Tage in meiner Heimatstadt. Der Krieg war eben zu Ende gegangen, er kam als Abgesandter des ukrainischen Staates, um an einem wichtigen Treffen teilzunehmen. Ich wiederum verbrachte ein paar Stunden in seinem Heimatdorf. Ich fuhr eigens dorthin. Ein Dorfbewohner namens Petro mit altmodischem Schnurrbart, der sich um das Familiengut kümmerte, zeigte mir alles bereitwillig und fragte ganz nebenbei:
»Sind Sie mit ihm verwandt? Wieso interessieren Sie sich für ihn? Für einen normalen Museumsbesucher wissen Sie ganz schön viel.«
Ich antwortete, dass ich mich einfach für ihn interessierte, es sei schwer zu erklären. Petro nickte, er verstand. Er gab mir seine raue, schwielige Hand. Ich verriet nicht, dass es noch etwas gab, das uns verband, ein seltsamer Umstand, auf den ich erst kurz zuvor gestoßen war und der mir als letzte Rechtfertigung meiner Hartnäckigkeit diente. Der zeitliche Berührungspunkt unser beider Leben: Wir wurden am selben Tag geboren, am 17. April. Er allerdings exakt hundert Jahre vor mir.
Nun denke ich oft über Zeit nach und erzähle allen, dass man erst mit der Zeit ein Gefühl für Zeit entwickelt. Je weiter man in ihr voranschreitet, desto sichtbarer wird sie. Je länger man lebt, desto mehr gibt es von ihr. Und alle anderen Zeiten, in denen ich nicht gelebt habe, aber von deren Existenz ich weiß, wachsen um das Körnchen meiner persönlichen Zeit, bilden Schichten, lagern sich ab. Deshalb scheint mir, als hätte ich schon unendlich viel gelebt, und das Ende müsste in Kürze kommen.
Das Ende kam tatsächlich, es kam als »Herz im Hals«. So nenne ich meine unberechenbaren Panikattacken, bei denen ich schreckliche Angst bekomme, und mein Herz – das wichtigste Organ des Körpers – plötzlich dröhnt und in meine Kehle drängt, als wollte es gleich hinausspringen. Ich versuchte, die Attacken in Worte zu fassen, sie sind meine Armee, schließlich bin ich Schriftstellerin, aber die Worte zerfielen, als hätte sie jemand gekocht und mit einem Holzlöffel umgerührt. Die Wörter hatten keine Bedeutung mehr. Das Ende, das ich erlebte, war das Ende aller Zeiten in mir und konnte nicht auf die gewohnte Art und Weise beschrieben werden. Ich brauchte neue Worte, eine neue Wahrheit, und die Suche danach beherrschte mein ganzes Denken.
Ich bin jung genug, um sagen zu können, dass ich meine gesamte literarische Karriere hindurch – und das sind sechs Bücher, die kaum jemand braucht – am Computer gearbeitet habe. Ich habe nie mit der Hand geschrieben, beherrsche es nicht, und muss ich doch etwas aufschreiben, kritzle ich und mache massenhaft Fehler, weil ich es nicht gewohnt bin. Der Computer dagegen ist mein Webstuhl. Früher erschien mir das Schreiben auf dem Computer wie das Weben eines Teppichs, ich wollte das Textwebwerk so farbenfroh wie möglich gestalten. Jetzt ist der Prozess des Schreibens eher wie Kla- vierspielen. Ich musiziere. Drücke virtuos die Tasten, wiege meinen Rumpf rhythmisch vor und zurück, meine Finger erstarren in der Luft, wenn ich eine Pause brauche, und landen danach artig wieder auf der Tastatur, bringen die richtigen Buchstaben zum Erklingen. Früher webte ich einen farbenfrohen Lebensweg, nun schreibe ich eine gnadenlose Musik des Endes. Ein Requiem auf mich selbst. Das heißt nicht, dass ich morgen sterben werde, ganz und gar nicht. Wenn man das eigene Ende erlebt und angenommen hat, kann man noch unbestimmt lange leben.
Das »Herz im Hals« war speziell bei den ersten Malen so unerträglich, dass ich mich aus dem Fenster gestürzt hätte, wenn ich mich in diesem Moment nur hätte bewegen kön- nen. Herzrasen, Schmerzen in Brust und Schläfen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit. Doch das Schlimmste waren nicht die physischen Symptome, sondern die Verzerrung der Wirklichkeit, die mein ganzes Wesen durchdrang, ihre neue Wahrnehmung, wie von der anderen Seite, von wo es kein Zurück gibt. Es war nackte Todesangst, so denken die Lebenden über den Tod. Gleichzeitig erlebte ich den Verlust des Sinns in mir
(oder war da nie einer gewesen?), des fundamentalen Sinns, von dem aus alles seinen Anfang nimmt. Die Frage nach dem Wieso überdeckte alle anderen Fragen. Nicht wer ich bin, war wichtig, sondern wieso. Nicht wann und wie spielte eine Rolle, sondern warum.
Und in einem dieser Augenblicke, als mich eine tiefe Leere quälte, begann ich plötzlich über die Zeit nachzudenken wie über etwas, das eine Kette sinnloser Ereignisse miteinander verbindet, und darüber, dass der Sinn nur in der Aufeinanderfolge dieser Ereignisse liegt und dass weder Gott noch die Liebe noch die Schönheit noch die Größe des Verstands unsere Welt bestimmen, sondern allein die Zeit, der Lauf der Zeit und das Vergehen des menschlichen Lebens in ihr.
Das menschliche Leben ist ihre Nahrung. Die Zeit verschlingt Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßigen Masse wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben. Mich bedrückte weniger das Ver- schwinden selbst als die Spurlosigkeit des Verschwindens. Ich dachte, dass ich mich bereits selbst mit einem Fuß dort befand, in der Vergessenheit. Der Prozess meines unabwend- baren Verschwindens hatte schon in der Minute meiner Geburt begonnen. Und je länger ich lebte, desto mehr ver- schwand ich. Meine Gefühle und Emotionen, mein Schmerz und meine Freude verschwanden, es verschwanden die Orte, die ich gesehen, und die Menschen, die ich getroffen hatte. Meine Erinnerungen und meine Gedanken verschwanden. Mein Verständnis von der Welt verschwand. Mein Körper verschwand, jeden Tag ein bisschen mehr. Die Welt in mir und um mich verschwand spurlos, und ich konnte nichts tun, um sie davor zu bewahren.
Damals begann ich, jede Menge alter Zeitungen zu lesen. Auf den verstaubten Seiten der Tagesblätter wurde am deutlichsten, wie winzig alles Lebendige vor dem Hintergrund der allmächtigen Zeit ist. Die Überschriften strotzten noch vor den Träumen und Ängsten ganzer Völker, Diskussionen wurden geführt, Skandale aufgedeckt, Gegendarstellungen abgedruckt, Apotheken, Buchhandlungen und Reiseagenturen platzierten ihre Werbungen, es wurden Spenden für im Krieg versehrte Landsleute gesammelt, ein Literaturabend wurde angekündigt, auf den letzten Seiten waren immer ein, zwei mittelmäßige Gedichte zu patriotischen Themen abgedruckt, für die Seele, und mit einem Mal wurde die brodelnde Gegenwart zur Vergangenheit, das offene Maul des Blauwals begann alles einzusaugen, der Herausgeber verkündete mit Bedauern, dass das Erscheinen der Zeitung aus finanziellen Gründen eingestellt würde. »Aber nicht für immer!« Danach gab es keine einzige Ausgabe mehr. Ende. Die Zeit hatte gesiegt. Der Blauwal war weitergeschwommen.
So war es mit der ersten ukrainischen Tageszeitung Dilo, die von 1880 bis 1939 in Lemberg erschien. Das Jahr 1939 bedeutete das Ende der viele Jahrhunderte andauernden Geschichte dieser Stadt: Der Einmarsch der Roten Armee führte sie in eine neue – die sowjetische – Epoche über, deren größte Leidenschaft darin bestand, das Vergangene zu vernichten und die Erinnerung daran zu verbieten.
Dasselbe passierte mit der zweiten wichtigen ukrainischen Tageszeitung Rada, die von 1906 bis 1914 in Kiew erschien. Ihr Herausgeber Jewhen Tschykalenko musste undenkbar hohe Summen aus eigener Tasche vorstrecken, um das weitere Bestehen der Zeitung zu sichern, da sie niemand abonnierte. Der Erste Weltkrieg löste dieses Problem auf radikale Weise, und Jewhen Tschykalenko atmete vor Erleichterung auf, denn sein Gewissen hatte es ihm nicht erlaubt, das Erscheinen der Zeitung einzustellen. Er sagte, die Zeitung sei wie eine Fahne: Solange sie weht, existiert die Ukraine.
Ein ganz anderes Schicksal erfuhr die Zeitung Swoboda, die von der ukrainischen Diaspora in New York seit 1893 herausgegeben wurde und bis heute erscheint. Die Swoboda wurde meine Lieblingszeitung, aber nicht weil sie die beste war, sondern weil sie alles sah und nichts vergaß. Hundertzwanzig Jahre, ohne Unterbrechung. Sechs Menschengenerationen lang, die sich in eine Chronologie fügen. Der Mord an Franz Ferdinand in Sarajevo und der Zerfall der Sowjetunion, der Brand in Husjatyn 1893 und die Geschichte von Anton, dem Hausschlachter von Bolechiw, der 1934 seiner Mutter mit einer Axt den Kopf abhackte. Oder am 20. Juni 1931: die Festnahme des Verbrechers
Al Capone in Chicago. Einen Moment dachte ich über diese Information nach und versuchte mir vorzustellen, was im selben Jahr in einem anderen Teil der Welt geschah, in den Dörfern meiner Großväter und Großmütter, aber mir fiel nur ein, dass die Frauen in dieser Gegend damals keine Unterwäsche trugen, weil sie keine besaßen, und dass sie – wenn es sein musste – regelmäßig zu Hause blieben, damit niemand sah, wie das rituelle Blut an ihren Waden herunterrann.
Die großen schwarzen Buchstaben der Überschrift des Leitartikels, die das Interesse des gewissenhaften Lesers fesseln und ihn andere Nachrichten wie die Festnahme des Gangsters aus Chicago vergessen lassen sollten, erweckten erst später meine Aufmerksamkeit. Gerade einmal vier Wörter, in großen, fetten Lettern. Nicht zu übersehen. Ich las die Überschrift immer und immer wieder, bis ich nichts mehr verstand und fühlte. Immer und immer wieder.

»Wjatscheslaw Lypynskyj ist tot«

Damals wusste ich nicht, wer er gewesen und wieso er ge- storben war. Aber für irgendjemanden musste der Tod dieses Mannes von außergewöhnlicher Bedeutung gewesen sein, wenn sogar die Swoboda auf ihrer Titelseite darüber berichtete und so die Bedeutung des Schicksals von Al Capone und seinem New Yorker Kollegen Arthur Schultz schmälerte, der zur selben Zeit eingelocht wurde. Nicht ein- mal die Nachricht über die Aufnahme des russischen Schriftstellers Maxim Gorki in die Kommunistische Partei konnte die Todesnachricht an Wichtigkeit übertreffen, ebenso wenig der Selbstmord der Frau eines Rabbiners in Vilnius, der allem Anschein nach auf einen Nervenzusammenbruch zurückzuführen war. In dieser Ausgabe der Swoboda war nichts wichtiger als der Tod von Wjatscheslaw Lypynskyj. Im Gegensatz zur armen Frau des Rabbiners, deren Name nicht einmal erwähnt wurde, verlangte der Name Lypynskyj keiner Erklärung, andernfalls hätte man ihn nicht an eine Stelle gesetzt, die für Weltkatastrophen reserviert war, wie das verheerende Erdbeben in San Francisco 1906.
Ich las den Nachruf unter der schwarzen Überschrift. Ein wichtiger Historiker und Politiker. Er hatte angeordnet, ihm nach dem Tod das Herz zu durchstechen, aus Angst, lebendig begraben zu werden. Der Herzstich wurde im österreichischen Sanatorium Wienerwald durchgeführt, in dem ein paar Jahre zuvor der damals unbekannte Schriftsteller Franz Kafka erfolglos behandelt worden war. Lypynskyjs Tochter Ewa und sein Bruder Stanisław waren Zeugen der Prozedur.
Zur selben Zeit, im Juni 1931, feierte mein Großvater seinen fünften Geburtstag. Seine Mutter besaß keine Pferde und spannte sich selbst vor den Pfug, um ihren Hektar Land zu pfügen, und anstelle der Unterschrift machte sie ein Kreuz. Ihre Heimat, die Ukraine, genauer gesagt Ostgalizien, gehörte damals zu Polen.
Auch meine andere Großmutter war bereits auf der Welt. Ihre Mutter hatte die schönste Stimme in der Gegend, doch nur wenige konnten sich daran erfreuen, denn die Frau starb gleich nach der Geburt ihres Kindes. Der Witwer, einst ein wohlhabender Bauer, ließ seine Tochter auf den Stufen des Waisenhauses zurück und starb selbst 1933 an Hunger. Ihre Heimat – Kleinrussland, die russische Ukraine, die Große Ukraine, die Ukrainische Sozialistische Republik – war de facto ein Teil Russlands. Doch kann man ein Land, das tötet, als Heimat bezeichnen? Ich weiß es nicht. Ich befand mich im Bauch des Blauwals. Obwohl ich verschluckt worden war, hatte ich die Möglichkeit, meine Geschichte neu zu erleben. Meine und seine, die von Wjatscheslaw Lypynskyj. Meine Geschichte mithilfe seiner Geschichte. Ich musste nur so tun, als hätte niemand sein Herz durchstochen, als würde es immer noch schlagen. In meiner Kehle. Und ich beiße die Zähne zusammen, damit es ja nicht aus mir herausspringt.

Tanja Maljartschuk wurde 1983 in Ivano-Frankivsk/Ukraine geboren, studierte Ukrainische Philologie an der Prykarpattia National Universität. Einige Jahre arbeitete die Autorin in Kiew als Fernsehjournalistin. Seit 2011 lebt sie in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, die u.a. ins Englische, Polnische, Russische und Deutsche übersetzt wurden. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders« und 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«. 2018 erhielt sie für den Text »Frösche im Meer« in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman »Blauwal der Erinnerung« auf Deutsch (aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck) bei Kiepenheuer&Witsch

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Vom Gebrauch der Wünsche.

Leseprobe aus einem spannenden, romantischen und zugleich gesellschaftskritischen Roman von Lydia Mischkulnig.
Lydia Mischkulnig. Portrait. Fotograf Margit Marnul. Redaktionelle Veröffentlichung nur bei Copyrightnennung kostenfrei. Copyright/Foto: Margit Marnul, Wien

Portrait Lydia Mischkulnig. Fotograf Margit Marnul. 

Leon war von den herrschaftlichen Insignien angezogen und schritt auf sie zu. Er streckte die Hand nach der Krone aus, um sie zu betasten, um zu spüren, ob sie Wirklichkeit war oder nur ein Traum. Natürlich konnte er nicht fühlen, ob das Gold echt war, aber wenigstens, ob aus Metall oder Papier. Der Kellner breitete das Tuch aus, faltete es zu einem Stanitzel und legte es neben das Besteck. Dann zog er Teller aus dem unteren Stockwerk des Servierwagens und stellte das beflorte Porzellan auf den Tisch.

„Halt“, sagte der Kellner scharf und kalt, als wären seine Stimmbänder Rasierklingen, „das Ding greifst du nicht an!“

Leon zuckte sofort zurück. Er ließ die Hand fallen, sie schlug auf dem Oberschenkel auf. Er war peinlich berührt wegen seiner Gier. Seine Hand fühlte sich steif an, fremd, als wäre sie aus einem anderen Holz als er geschnitzt.

Der Kellner öffnete die Verandatür und schob die Flügel auf, hakte sie gegen Windstöße fest, gähnte in die Weite über der Stadt und streckte sich in der Sonne. Er ging zu den Rosenstöcken auf der Terrasse, um sie zu begrüßen wie alte Bekannte. Er benahm sich wie ihr Besitzer, distanzlos.

Leon lauerte auf jede seiner Bewegungen. Der Mann schien länger beschäftigt, denn er zog sich nun Handschuhe über die Finger. Er zupfte an den Rosenstöcken herum, wandte ihm den Rücken zu.

Neben dem großen Saal befand sich nur zwei Stufen höher ein kleinerer Salon. Leon sah sich ungeniert um, da er jetzt allein war. Er wagte sich vor, immer mutiger, weil niemand auftauchte, weder Personal noch Insasse. Hier unter dem venezianischen Luster wollte er spielen, seine Bauklötze türmen und mit einer Kutsche und zwölf Rappen durch die Zimmer galoppieren. Floral gezierte Spiegel byzantinischen Stils holten die mächtigen Bäume herein. Die Pflanzen schaukelten in den Rahmen der Spiegel und ihre indianische Herkunft erzeugte die Fantasie einer dahinterliegenden Prärie. Während sie im Wind wankten, blieb Leon beglückt über ein Steckenpferd stehen, das völlig unerwartet neben dem Kamin lehnte, als hätte jemand seinen Wunsch verstanden und zumindest das Pferd herbeigezaubert. Er würde die Krone mit Krähenfedern schmücken.

Leon drehte auf dem Absatz um und setzte sich die Krone kurzerhand auf, suchte den Spiegel. Stille herrschte rundum und die Krone verströmte einen kalten Hauch. Der goldene Rahmen blitzte. Ein Handlauf für den Blick. Der Spiegel warf das Bildnis des Dauphins zurück. Die Zweige der Rosenstöcke knisterten, als der Kellner die Köpfe zur Seite bog, um die weitest entfernte Blüte samt Stiel abzuzwicken. Er war beschäftigt. Wie gut, dass niemand sehen konnte, wie Leon die Krone wieder anhob und sie bis zum Äquator auf den Kopf presste.

„Hallo, ich bin Irmgard“, sagte da jemand mit sonorer Stimme. Leon fuhr zusammen, ertappt wandte er sich um.

Nichts zu sehen. Nur die Stimme, gedämpft durch die schweren Stoffe, drang heran. Leon bemerkte erst jetzt die Nische. Der Vorhang wurde zurückgeschoben. Wie vom Donner gerührt vergaß er die aufgesetzte Krone, drehte den Kopf und starrte Irmgard an.

Die Frau hatte markante dunkle Augenbrauen, langgezogene, mit Ölkreide betonte Striche. Richtige Torbögen über den klaren Augen mit dem jungen Blick. Eine schlanke Person, schwarz gewandet, und das einzig Knallige an ihr war der rote Mund. Ihre Jugend glänzte, Heiligenschein einer noch nicht Sehnsüchte erfüllenden Nymphe. Ihre weiße Haut erhellte den Zwerg. „Da ist ja die Prinzessin“, rief sie und sagte freundlich zu ihm, „hast du schon alles gefunden?“ Sie erschien Leon erwachsen und reif, doch war sie kaum zwanzig, die wunderschöne Dame mit der sanftmütigen Stimme, die Leon sogleich als Wohltat empfand, obwohl sie ihn „Prinzessin“ genannt hatte.

Dann trat sie ganz hervor, diese Gestalt im eng anliegenden, asymmetrisch geschnittenen Rock. Die dünnen, wohlgeformten Beine mündeten in silbernen Sandalen. Die kleinen Füße waren mit Bändchen gehalten, festgezurrte Wurzelballen ausgerissener Lilien. Diese Frau war zwar jung, aber nicht frei, sie würde erst viel später zur Blüte kommen, wenn sie den richtigen Nährboden gefunden hatte. Und dennoch wirkte sie mit ihren unter der Haut vorschießenden Schlüsselbeinknochen, Gerippe des Todes, wie eine Allegorie auf das ganze Leben. Sie war in Begleitung. Ein Schlurfen folgte ihr auf dem Fuß. Sie stützte einen buckligen Greis. Der Alte war vielleicht ihr Großvater? Etwa achtzig und gezeichnet von Schwäche. Vielleicht auch nur von Lustlosigkeit. Kaum erblickte er das Kind, funkelte er auf und ein Schuss Neugier animierte seinen Leib. Der gekrönte Leon wirkte belebend und vertrieb die Depression. Der Mann erwachte regelrecht und blinzelte verführerisch, mit den faltigen Lidern zwinkernd, als wäre er genauso jung, um neckisch zu wirken wie das Kind. Plötzlich war er geschmeidig und anschmiegsam, wirkte viel zu interessiert an der Welt, als dass man ihn als Greis bezeichnen mochte. Beim Anblick des kleinen Leon fiel das Alter richtiggehend ab von ihm. Er richtete sich auf, der Buckel wurde gerade. Er bewegte sich kraftvoll, elegant wie ein Jaguar. Seine Augen notierten flink, klar, stechend, dass es sich um neue Beute handelte. Seine Stimme war fester Ausdruck eines ungebrochenen Körpers, eines unbeugsamen Willens. Seine Freude schmeichelte Leon, doch da musterte ihn der Alte plötzlich kritisch und brach ungestüm in Hohngelächter aus, als er sagte: „Das soll ein Mädchen sein?“

Leon wusste nicht, wie reagieren, außerdem trug er noch die Krone, doch sah er an sich hinunter, als müsste er sich seiner Physiognomie erst vergewissern. Seine Füße, seine Knie, das Becken, der Rumpf, der Hals, das Haupt, und als er sich bewusst wurde, dass er seit einigen Jahren diesen Körper bewohnte, sich zweifelnd fragte, ob er nun einen Knaben ausmachte oder der Körper ihn, fiel die Krone auf den Boden.

„Er ist ein ganz normales Kind“, sagte die Frau.

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis(2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2010). Bei Haymon erschienen: „Hollywood im Winter“. Roman (1996), „Macht euch keine Sorgen“. Neun Heimsuchungen (2009), „Schwestern der Angst“. Roman (2010) und zuletzt „Vom Gebrauch der Wünsche“. Roman (2014). Im Herbst 2016 erscheinen ihre neuen Erzählungen unter dem Titel „Die Paradiesmaschine“.

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Kunst kann sich nicht auf reines Experiment reduzieren. Künstler experimentieren zwar in der Kunst, aber um die bestmögliche Ausdrucksform zu finden.

Eva Flatscher, die Wiener Light Painting- und Performance Künstlerin hat Wien für einige Jahre den Rücken gekehrt. Sie lebt mit Ihrer Familie in New York und performed dort sehr erfolgreich in ihrer neuen zeitgenössischen Kunstform.
Eve Flatscher Rü
MM: Kann man deine Arbeiten überhaupt auf Light Painting reduzieren und gehen deine Performances nicht längst darüber hinaus?

Eva Flatscher: Ja, auf jeden Fall gehen sie darüber hinaus. Lightpainting ist die Maltechnik, ich mach  es nicht wegen der Maltechnik, sondern mir geht und ging es immer darum möglichst alle Kunstformen gleichzeitig sprechen lassen.

MM: Du arbeitest ja seit 1992 als freie Künstlerin und hast bereits 2002 mit Light Painting begonnen. Würdest du heute deine Kunst verwandt oder vielleicht sogar als zufällige Weiterentwicklung des Wiener Aktionismus sehen?

Eva Flatscher: Auf keinen Fall zufällig, das sind meine künstlerischen Wurzeln. Ja, ich sehe es als Weiterentwicklung dieser Kunstform, die in den 60er Jahren entstanden ist. Meine Arbeit ist eine Weiterführung, ja, aber zum Unterschied sehe ich mich als sehr konstruktiv, meine Arbeit ist nicht destruktiv. Ich würde sagen viele Arbeiten im Wiener Aktionismus sind nicht ausschließlich, aber doch augenfällig destruktiv.

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