Ich spüre förmlich, was die Nachbarn und Wanderer, die an meinem Garten vorbeigehen denken:„ Jetzt ist die Verrückte vollkommen übergeschnappt!“
Ist ja auch kein Wunder, ich liege am Boden und grabe nach Engerlingen, Raupen und Würmern. Man verzeiht mir in unserem Dorf manch unkonventionelles Verhalten, weniger weil ich Schriftstellerin (Künstler sind ja bekanntlich alle ein wenig schräg) bin, sondern weil ich als „Zuagroaste“ aus der Stadt einen Sonderstatus habe, weil alles, was aus Wien, kommt den Makel des Sonderbaren in sich trägt.
Mir macht das nichts aus, habe ich ja eine weit größere Aufgabe zu erfüllen, als mich um die Meinungen meiner Mitmenschen zu kümmern, meine Vogelkinder müssen gefüttert werden und das mindestens zehn Mal am Tag! Mein roter frecher Kater namens Werner hatte die Amselmutter vor ein paar Tagen aus dem Nest gejagt und anschließend gefressen. So schmachten die kleinen wolligen Küken alleine in ihrem Nest und warten auf Futter, das ich ihnen mühsam heranschaffe. Jeder vernünftige Biologe oder Ornithologe wird mir nun entgegenhalten, es läge eben in der Natur der Sache zu fressen und gefressen zu werden. Einfach wegschauen? Ich kann das nicht.
Natürlich wäre es jetzt einfacher, sich gemütlich ins Sofa fallen zu lassen und sein Hirn medial mit Wichtigerem, vielleicht mit Diskussionen über den Heldenstatus einer brustamputierten Schauspielerin oder dancingstar- geprüfter Stars aufweichen zu lassen. Ich kann das nicht.
Ich kann nicht wegschauen, wenn ich von Plastikinseln höre, die im Pazifik schwimmen und die eine flächenmäßig bedrohliche Ausdehnung wie Indien aufweisen, erschaudere, wenn ich von einer Freundin höre, die in einem großen Fünfsternehotel arbeitet und mir berichtet, dass man in der Küche rund ein Drittel der fertigen Speisen einfach „entsorgt“, also wegwirft. Wohlwissend, dass es Menschen gibt, die sich stundenlang in Sozialmärkten anstellen, um einen Bund Radieschen oder ein Kilo Brot zu ergattern.
In Anbetracht dieses massiven sozialen Ungleichgewichts und der globalen Bedrohung, die eine Klimaerwärmung mit sich bringen, scheint mein Amselfüttern geradezu ein lächerlicher Wahnsinnsakt, eine affektierte Übersprunghandlung zu sein, sich aus der resignierenden Lähmung zu befreien.
Bereits Francis Bacon (1561-1626), engl. Politiker, Naturwissenschaftler und Philosoph hat mit seinen Gedanken der Beherrschung der Natur und Unterwerfung im Interesse des Fortschritts den teilweise zerstörerischen Geist in unsere „zivilisierte“ Wiege gelegt, viel zu langsam und nur zögerlich kommt uns erst jetzt in den Sinn, was Bert Brecht einmal zynisch meinte: „Zuerst das Fressen, dann die Moral!“
Was die Konsequenz verantwortungsvollen Handelns wäre?
Ich versuche auch in meiner Familie das „rechte Maß“ (auf das hat schon Hildegard von Bingen hingewiesen!) zu halten. Wir produzieren möglichst wenig Müll, Rindfleisch gibt es nur zu besonderen Anlässen, gewisse Konsumgüter, bei denen im Vorfeld bekannt ist, dass sie unter menschenverachtenden Produktionsbedingen hergestellt werden, kaufen wir nicht und Essen wird aus Prinzip nicht weggeschmissen. Das funktioniert und tut eigentlich keinem weh. Vielleicht ein bisschen, die Kinder murrten und auch für mich war die Umstellung anfänglich gar nicht so einfach. Aber es geht, weil es bei uns zu einer Kulturfrage, zu einer positiven Haltung dem Leben gegenüber geworden ist. Diese Kulturfrage wird in Zukunft unsere Überlebensfrage werden. Und weil hinschauen ansteckend ist, machen da schon viele Freunde und Bekannte mit.
Meinen verdutzen Wanderern an meinem Gartenzaun werde ich mich auch einmal erklären, damit sie nicht glauben, dass ich irre bin.
Apropos irre: Ich muss jetzt leider meine Gedanken beenden, weil ich wieder meine Amselküken füttern gehe!
Von Mag. Katharina Grabner-Hayden
Ich freue mich sehr, dass Katharina hier wieder eine sehr schöne und aktuelle Geschichte von Wertschätzung und vom Sinn des eigenen Handelns versus äusseren Schein erzählt, die mich daran erinnert wie leicht man selbst vom Trugbild des Äusseren verführt wird.
Mag. Katharina Grabner-Hayden studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, ist verheiratet, Mutter von vier Söhnen und damit nicht genug, auch erfolgreiche Autorin! Der alltägliche Wahnsinn in einer Familie ist eines ihrer Lieblingsthemen. Zwischen 1998 und 2005 schrieb Grabner-Hayden für eine deutsche Zeitschrift Kolumnen zum Thema „Frau sein“. 2005 erschien der historische Roman „Löschen“, 2009 der Roman „Drei Leben“ und 2011 erschien ihr Satireband „Jeden Tag ist Muttertag“ im Amalthea Verlag. Jetzt ist der Folgeband „Ein himmlisches Chaos“ erschienen. Mag. Katharina Grabner-Hayden lebt und arbeitet in der Nähe von Krems, Niederösterreich.